Wir brauchen die Rahmenbedingungen für ein digitales Wirtschaftswunder
Auf den ersten Blick war der Wahlkampf dieses Jahr monoton und langweilig. Die Wahlkampagnen haben sich kaum voneinander unterschieden und in einer Zeit des nationalen Populismus war es offenbar passender, die Wähler in ihrem Dauerschlaf zu belassen als sie mit unangenehmen Wahrheiten zu konfrontieren.
Dies ist schade, da in diesem Jahr für Deutschland so viel auf dem Spiel steht. Flüchtlinge, innere Sicherheit und soziale Gerechtigkeit waren die Leitthemen und wurden in den Zeitungen und Talkshows fast schon ausufernd diskutiert. Aber kaum jemand setzte sich mit dem einen Thema auseinander, das den Wohlstand des Landes über die kommenden Jahrzehnte bestimmen wird: Die Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit deutscher Firmen in einer rasant wachsenden global Digitalökonomie.
Ich bin fest davon überzeugt, dass die Vorbereitung für eine digitale Zukunft die größte Herausforderung der nächsten deutschen Bundesregierung darstellen wird. Und zwar deutlich mehr als die Flüchtlingskrise, Terrorismusabwehr oder andere Themen, die derzeit leidenschaftlich diskutiert werden. Wir haben uns auf unserem Wohlstandsniveau eingerichtet, dabei ist die Perspektive der deutschen Wirtschaft alles andere als rosig.
Die deutsche Industrie ist in die Jahre gekommen
Um einen Eindruck davon zu bekommen, was uns erwartet, müssen wir auf den derzeitigen Stand unserer Wirtschaft blicken – sind wir wirklich reif für das digitale Zeitalter?
Mit der potenten Nachhilfe der EZB haben wir im vergangenen Jahr ein Wachstum von 1,9 Prozent hingelegt – immerhin der größte Wachstumsschub der vergangenen fünf Jahre. Aber unsere stärksten Wachstumstreiber bleiben der Mittelstand sowie im speziellen der Automobilsektor. Beide werden in den kommenden Jahren unter enormem Druck stehen: Die Chinesen investieren in Deutschland bereits seit geraumer Zeit und lernen von unseren industriellen Champions, gerade erst kürzlich durch die Übernahme der Roboterfirma Kuka. Es ist naiv zu denken, dass sie weiterhin wohlwollende Beobachter bleiben. Im Automobilsektor verhält es sich nicht viel besser. „Dieselgate“ war nur eine erste Warnung dafür, was uns noch erwartet. Wenn selbstfahrende Autos und Elektromotoren in den nächsten 15 Jahren den allgemeinen Durchbruch schaffen, könnten sich die Geschäftsmodelle unserer nationalen Autoindustrie bereits in naher Zukunft in Luft auflösen. Unsere Automobilmanager müssen sich nur einmal bei den finnischen Kollegen von Nokia erkundigen, wie es ist, wenn einem scheinbar unbesiegbaren Champion der Markt unter den Füssen weggerissen wird. Es bleiben vielleicht noch ein paar Jahre, um ein ähnliches Schicksal abzuwenden.
Mit Blick auf unseren Technologiesektor ist SAP das einzige deutsche Technologieunternehmen auf der internationalen Bühne. Es ist auch das einzige Tech-Unternehmen, das sich selbst zu den Top 10 DAX Firmen zählen darf. Das Problem: SAP ist 45 Jahre alt. Stellen wir SAP die Tech-Firmen gegenüber, die im amerikanischen S&P 500 unter den Top 10 geführt werden, wird unsere Rückständigkeit sogar noch klarer: Apple, Microsoft, Facebook, Amazon, Google. Sie alle sind relativ junge Unternehmen mit einer gigantischen Marktdominanz und dem Cash Flow von Monopolen. Alle besitzen hunderte Millionen direkter Kundenbeziehungen, investieren in die Hardware der nächsten Generation, in künstliche Intelligenz und in eine massive Infrastruktur für Daten.
Wenn uns etwas am Standort Europa liegt, müssen wir ähnliche Technologie-Unternehmen aufbauen. Um dies zu schaffen, braucht es endlich die richtigen Rahmenbedingungen. Ich plädiere für fünf grundlegende politische Veränderungen:
1. Wir müssen es attraktiver machen, in deutschen Start-ups zu arbeiten
Leider gibt es in Deutschland keine standardisierte Mitarbeiter-Beteiligungsprogramme, sogenannte „Stock Options”, da unsere Geschäftsform der GmbH sie nicht erlaubt. Die Struktur der GmbH ist großartig für örtliche Bäckereien und Tischlerbetriebe, aber sie ist gänzlich ungeeignet für schnell wachsende Start-up Unternehmen mit internationalen Ambitionen. Diese Situation stellt eine extreme Beeinträchtigung zur Gewinnung von Top-Kandidaten aus den USA, aus Israel oder aus anderen Ländern mit erstklassigen Technologie-Talenten dar.
Wir müssen dringend die Barrieren für Stock Option Programme aus dem Weg räumen, damit die Mitarbeiter von Start-ups finanziell vom Wachstum profitieren können. Die Mitarbeiter von heute sind die Gründer von morgen.
2. Unsere Ausbildung muss sich auf die Bedürfnisse des digitalen Zeitalters einstellen
Es gibt in Deutschland einen akuten Fachkräftemangel bei hochqualifizierten Arbeitskräften in der Digitalbranche. Sie müssen derzeit vorwiegend aus dem Ausland rekrutiert werde, was für deutsche Tech-Unternehmen sehr kostenintensiv und zeitaufwändig ist. Solange wir uns dieses Problems nicht annehmen, wird es noch gravierender werden: Wirtschaftsprognosen zufolge fehlen uns bis zum Jahr 2030 rund drei Millionen Fachkräfte.
Die Regierung sollte den Ausbau von Spitzenuniversitäten nahe an den Technologie-Standorten Berlin und Hamburg unterstützen und sich dabei am Beispiel der ETH Zürich oder Cambridge orientieren. Wir müssen in Forschung und Entwicklung ebenso investieren wie in den Technologietransfer. Die momentanen deutschen Spitzen-Universitäten sind weit weg von der digitalen Pulsader des Landes und die Ausbildung ist überhaupt nicht verzahnt mit den Bedürfnissen von Technologie-Unternehmen.
3. Wir brauchen eine zu 100 Prozent digitalisierte Verwaltung
Sowohl für die Bürger als auch für Unternehmen sind jegliche Prozesse mit den Behörden, seien es Meldeprozesse, Unternehmensgründungen und/oder Finanzierungen, ein sehr kostspieliger und oft aufwändiger Papierkrieg. Die Prozesse sind komplett offline, antiquiert und behindern die Innovationsfreude von Start-ups. Die Bundesregierung muss es schaffen alle Geschäftsprozesse zu digitalisieren. Eine Firma zu gründen und Kapitalerhöhungen durchzuführen muss einfach und elektronisch möglich sein.
4. Wir benötigen viel mehr Risiko- und Wachstumskapital
Trotz einiger Fortschritte steckt die Europäische Risikokapitalindustrie im Vergleich mit den viel weiter entwickelten Märkten in den USA oder in China immer noch in den Kinderschuhen. VC Fonds in ganz Europa investieren in der Frühphase von Unternehmen weniger als ein Drittel des Kapitals verglichen zu den Fonds in den USA. Noch schlimmer sieht es bei der Spätphasenfinanzierung aus: Hier verwalten europäische Investoren weniger als ein Zwanzigstel des Geldes im Vergleich zu den Amerikanern.
In Deutschland herrscht die generelle Meinung vor, dass Rentenfonds und Lebensversicherungen nur in „risikofreie“ Anlagen investieren sollten. Das Paradoxe in einer Zeit des radikalen technologischen Umbruchs und der Nullzinspolitik ist es aber, dass die angeblich „risikofreien“ Anlagen in Wirklichkeit die riskantesten sind. Nicht massiv in Technologie und Innovation zu investieren ist der sicherste Weg, die Wettbewerbsfähigkeit der nächsten Generation zu verspielen.
Und zuletzt: Wir müssen stärkeren Zugang zu Daten erhalten, um einen fairen Wettbewerb mit globalen Playern zu ermöglichen
Aktuell liegen über 80 Prozent aller Daten in der Hand von sehr wenigen Firmen, die allesamt aus den USA oder aus China kommen (Google, Facebook, Amazon, Alibaba, Tencent). Die Daten dieser Firmen sind für deutsche Unternehmen nur sehr bedingt zugänglich. Zusätzlich bezahlen diese Unternehmen in Europa kaum Steuern und umgehen unsere Datenschutzgesetze. Die Bundesregierung sollte deutsche Start-up Unternehmen daher einen besseren Zugang zu den Daten dieser Firmen ermöglichen und sie zugleich fair besteuern. Die zusätzlichen Steuergewinne gilt es dann, in die Digitalisierung der europäischen Wirtschaft zu investieren.
Wirtschaftswunder 2.0
Unsere Regierung versteht viele der Probleme, aber sie ist notorisch langsam dabei, sie anzugehen. Bereits im Jahr 2014 sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel: „Wir haben die Gelegenheit zu einem digitalen Wirtschaftswunder. Die Frage ist, ob es in Deutschland stattfindet.“
Ich bin stark davon überzeugt, dass es in Deutschland geschehen kann. Wir haben hochtalentierte Menschen und ein starkes unternehmerisches Bewusstsein. In den nächsten vier Jahren müssen wir geschlossen daran arbeiten, das digitale Wirtschaftswunder anzupacken. Sehr viel mehr Zeit wird uns nicht mehr bleiben.
Berlin, im September 2017
Zum Autor:
Johannes Reck ist CEO und Mitgründer von GetYourGuide (www.getyourguide.com), einer der größten Plattformen für Touren, Ausflüge und Aktivitäten an Urlaubszielen weltweit. Das Unternehmen hatte sich aus einer Hochschulinitiative an der ETH Zürich entwickelt und zählt heute zu den erfolgreichsten Start-up Unternehmen Europas. Am GetYourGuide Hauptsitz Berlin wird Johannes Reck aufgrund seiner Kompetenz und internationalen Erfahrung immer wieder in Expertenrunden eingeladen, darunter auch Roundtables und Gesprächskreise, die von politischer Seite initiiert werden.
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