Schreiben des Aktionsbündnis Tourismusvielfalt zur Verlängerung der Aussetzung der Insolvenzantragspflicht

Schreiben an das Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz 

Sehr geehrte Frau Bundesministerin,

am 30. März traten im Rahmen des Gesetzes zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht auch die Vorschriften zur Aussetzung der Insolvenzantragspflichten in Kraft; die Pflicht zur Stellung eines Insolvenzantrages wurde vorerst bis 30. September ausgesetzt.

Diese Entscheidung war wichtig und richtig. Mit dem heutigen Kenntnisstand müssen wir allerdings feststellen: Die Frist bis 30. September ist nicht angemessen und nicht ausreichend.

Die 23 touristischen Verbände der Initiative TOURISMUSVIELFALT bitten Sie daher: Verlängern Sie diese Frist bis zum 31. März 2021.

Die Touristik-Branche ist von der Corona-Pandemie härter und vor allem zeitlich länger betroffen als alle anderen Branchen: Für viele Unternehmen, die vor der Corona-Krise wirtschaftlich kerngesund und erfolgreich im Markt agierten, wird auch Ende September nicht absehbar sein, ob die Arbeitsplätze erhalten werden und der Betrieb fortgeführt werden kann oder nicht:

  • Nach wie vor ist für Tausende von touristischen Anbietern nicht abzuschätzen, in welchem Maße wichtige Liquiditätshilfen rechtzeitig fließen:
    • Die Auszahlung der sog. Corona-Soforthilfen hat im Frühjahr meist zehn bis zwölf Wochen gedauert – für die bis 31.8. zu beantragenden Corona.berbrückungshilfen können daher die meisten Unternehmen wohl nicht vor November mit verbindlichen Informationen zu Zahlungshöhe und Zahlungsfluss rechnen.
    • Bereits bei Verabschiedung der Corona-.berbrückungshilfen hat das BMWi signalisiert, eine Verlängerung über den August hinaus im Bedarfsfall zu prüfen. Dieser Bedarfsfall wird eintreten, denn bereits jetzt ist erkennbar, dass die weltweite Reisetätigkeit sich nicht im September normalisieren wird. Damit werden Teile der Reisebranche neue Hilfen benötigen. Ob und wann und in welcher Höhe diese genehmigt und ausgezahlt werden, wird über Insolvenz oder Fortbestand vieler Unternehmen entscheiden – aber kaum bis 30. September absehbar sein.
    • Die Bundesregierung hat die Reiseveranstalter verpflichtet, Kundengelder für abgesagte Reisen binnen 14 Tagen zurückzuzahlen, gleichzeitig aber hohe Kredite an Lufthansa und Condor vergeben, ohne diese zu zwingen, wiederum ihren Zahlungsverpflichtungen gegenüber Reiseveranstaltern und Reisebüros nachzukommen. So hat jüngst die Lufthansa erklärt, dass allein die Rückzahlung der Zahlungsansprüche aus dem Juni noch Monate in Anspruch nehmen werde. Diese existenzbedrohende Liquiditätsfalle ist nach wie vor für viele Unternehmen der klassischen aber auch der digitalen Reisewirtschaft nur lösbar, wenn endlich der lange diskutierte Liquiditäts- Fonds zur Zwischenfinanzierung durch die Bundesrepublik geschaffen wird. Angesichts der nur äußerst geringen erkennbaren Fortschritte in dieser wichtigen Frage ist u.E. ebenfalls nicht damit zu rechnen, dass hier bis 30.9. die erforderlichen Gelder an die Reisebranche abschätzbar sind oder gar bereits fließen.
    • Die am 3. April vom Bundeskabinett erklärte Zusage einer verpflichtenden Gutscheinlösung wurde zurückgezogen, die Alternativlösung (freiwilliger Gutschein mit staatlicher Garantie) ist bis heute nicht in Kraft. Nach unserem Kenntnisstand liegt weder die Freigabe aus Brüssel vor, dass es sich nicht um eine unerlaubte Beihilfe handelt, noch sind Einzelheiten der Konditionen oder des Verfahrens zur Umsetzung festgelegt worden. So ist es Veranstaltern nach wie vor unmöglich, Liquidität über Gutschein-Vereinbarungen mit den Verbrauchern zu generieren und eine Umsetzung bis 30. September erscheint leider mehr als fraglich.
  • Noch gilt für mehr als 140 Reiseländer weltweit eine pauschale Reisewarnung der Bundesregierung. Diese macht es Reiseveranstaltern, Online Travel Agencies und Reisebüros faktisch unmöglich, Reisen in diese Länder anzubieten.
    • Angesichts des weltweiten Verlaufs der Pandemie und der aktuellen Linie des Auswärtigen Amtes in dieser für die Reisewirtschaft existenziellen Frage ist nicht damit zu rechnen, dass diese Reisewarnung bis 30.9. in einem Maße revidiert wird, das den touristischen Anbietern Planungssicherheit gewährt und im üblichen Maße Winterbuchungen und Buchungen für den Sommer 2021 erlaubt.
    • Zahlreiche Bundes- und Landespolitikerinnen und -politiker haben in den vergangenen Wochen und Monaten wiederholt und intensiv vor Urlaubsreisen ins Ausland gewarnt. Diese Warnungen verunsichern die Verbraucherinnen und Verbraucher in erheblichem Maße und haben die Nachfrage nach touristischen Leistungen auch für wieder freigegebene Zielgebiete massiv reduziert. Diese Urlaubsreisen aber stellen unsere Existenzgrundlage dar! Ganz unabhängig von der Frage, welche Hygiene-, Abstands- und Schutzmaßnahmen im In- und Ausland denn nun sinnvoll und erforderlich sind, ergibt sich daraus für uns: Solange die Bundes- und Landesregierungen Corona-bedingt vor Urlaubsreisen warnen, so lange muss auch die coronabedingte Schutzfrist zur Insolvenzanmeldung verlängert werden.
  • Auch der Inlands-Tourismus ist in weiten Teilen massiv betroffen: Anbieter von Klassenfahrten und Jugendreisen, Betreiber von Jugendherbergen und Landschulheimen werden zum 30.9. noch keine Planungssicherheit haben, ab wann wieder mit Schul-Reisen und Jugendgruppen zu rechnen sein wird, denn aktuell ist in den meisten Bundesländern noch nicht einmal geklärt, in welcher Form der Unterricht nach den Sommerferien wieder aufgenommen wird – mit einer Klärung der Frage, ab wann Schulfahrten wieder aufgenommen werden können, wird daher u.E. auch auf Monate hinaus noch nicht zu rechnen sein.
  • Der Incoming-Tourismus, also der internationale Tourismus nach Deutschland, ist ebenfalls existenziell betroffen. Die Konzeption und Akquisition von touristischen Gruppenreisen und Fachstudienreisen benötigt monatelangen Vorlauf. Für die Planung und den Verkauf von Messe- und Kongressreisen ist vor allem erst einmal Planungssicherheit erforderlich, welche Messen in der „Messesaison“ von Oktober bis Mai überhaupt stattfinden und in welcher Form. Auch hier wird es für die Incoming-Agenturen schlichtweg unmöglich sein, bis 30. September bereits abzuschätzen, welche Volumina für die kommende Hauptsaison zu erwarten sind.
  • Gleiches trifft für die Busbranche zu: Solange stets die Gefahr besteht, dass vermeintlich sichere Destinationen kurzfristig wieder als Gefahrenziel eingestuft werden und Rückkehrer mit einer 14-tägigen Quarantäne belegt werden – wie aktuell z.B. für Luxemburg der Fall – ist eine Planung der Umsätze und Erträge nach den Grundsätzen eines ordentlichen Kaufmanns keinesfalls möglich.
  • Wichtige Rahmenbedingungen des zukünftigen geschäftlichen Handelns der Branche sind ungeklärt, insbesondere die Neuordnung der Insolvenzabsicherung mit ihren Konditionen, Vorgaben und eventuellen Übergangsfristen. Solange aber nicht bekannt ist, in welchem Rahmen Veranstalter und Reisebüros zukünftig den berechtigten Kundeninteressen nach Absicherung ihrer Zahlungen entsprechen sollen, ist es nicht abschätzbar, ob und wie dies finanziell zu gewährleisten ist.
  • Wichtige liquiditätssichernde Aspekte, wie z.B. die höheren Kurzarbeitergelder, greifen erst ab dem 4. bzw. 7. Monat – dieser Aspekt entfaltet seine Wirkung erst nach dem 30.9.

Fazit: Die Unternehmerinnen und Unternehmer der gesamten Touristikbranche werden schlichtweg nicht in der Lage sein, schon per 30.9. abzuschätzen, ob ihr Betrieb die Corona-Krise verkraften kann oder doch noch Insolvenz anmelden muss.

In der Begründung zum Gesetz vom 30. März heißt es „Durch die Maßnahmen soll den von den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie betroffenen Unternehmen Zeit für die Sanierungsbemühungen und Verhandlungen mit ihren Gläubigern verschafft werden.“ Genau diese Sanierungsbemühungen, diese Verhandlungen mit den Gläubigern führen alle Unternehmerinnen und Unternehmer mit äußerstem Einsatz und dem Ziel, Arbeitsplätze, Gelder der Kunden und Gläubiger und ihr Lebenswerk zu bewahren und zu erhalten. Diese Bemühungen, so intensiv sie auch angegangen werden, können aber bis 30. September aus den o.a. Gründen nicht abgeschlossen werden.

Wenn Sie zu Ihrem Wort stehen, einer Branche mit 3 Mio. Beschäftigten die notwendige Zeit zu gewähren, die Corona-Krise zu bewältigen, kann die Konsequenz nur sein: Verschieben Sie für Betriebe der Touristik die Frist zur Erklärung der Insolvenz um sechs Monate bis zum 31. März 2021.

Zahlreiche Gespräche mit hunderten Unternehmen der vergangenen Wochen haben uns gezeigt: Der weitaus überwiegende Teil der Betriebe war vor der Corona-Krise kerngesund und ist zuversichtlich, dies mittelfristig auch wieder zu erreichen: Kommen die lang erwarteten und überf.lligen Leistungen der Politik wie .berbrückungshilfen (bedarfsweise auch über den 31. August hinaus), Liquiditäts-Fonds, einzelfallbezogene Reisewarnungen pro Land, staatlich abgesicherter Gutschein, sinnvolle Neuregelung der Insolvenzabsicherungspflicht (auch für Fluggesellschaften!) etc. dann wird die große Mehrzahl der Betriebe sich im Winter soweit stabilisiert haben, dass eine Fortführung der Unternehmen gesichert ist.

Wird dagegen von den Unternehmerinnen und Unternehmern schon per 30.9. verlangt, eine Entscheidung über die Zukunft des Betriebs und seiner Arbeitsplätze zu treffen, droht eine gewaltige Pleitewelle in der Branche – das Beispiel Thomas Cook (Insolvenz am 23.9.2019) hat gezeigt, welche Gelder für nicht angetretene Reisen dann noch bei den Veranstaltern liegen: Diese Beträge würden den Rahmen der bestehenden Insolvenzabsicherung erneut sprengen und ähnlich wie bei Thomas Cook im vergangen Jahr würde wohl wieder der Steuerzahler die Lasten zu tragen haben. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass fast alle jetzt von der Corona-Pandemie betroffenen Betriebe – anders als Thomas Cook – vor wenigen Monaten noch wirtschaftlich gesund und profitabel waren: Umsatzeinbrüche von 100% über vier bis zwölf Monate gehen bei jedem Unternehmen an die Substanz und lassen sich nicht innerhalb von sechs Monaten – also bis zum 30.9. – ausreichend kompensieren: Die Insolvenz wäre rechtlich aus der Verpflichtung des ordentlichen Kaufmanns im Insolvenzrecht zwangsläufig.

All dies jedoch ließe sich mit Erfüllung unserer angemessenen, nachvollziehbaren und berechtigten Forderung nach Aufschub des letztmöglichen Datums für die Erklärung einer Insolvenz vermeiden.

Wir bitten Sie, im Interesse Zehntausender Unternehmer und ihrer drei Mio. Beschäftigten, im Interesse der reisenden Verbraucher und der Steuerzahler: Verlängern Sie die Frist bis zum 31. März 2021!

Gerne stehen wir jederzeit und in jedem Format (Video-Konferenz, Telefonat, persönlich) für eine konstruktive und sachbezogene Mitwirkung an der Überarbeitung der bisherigen Regelung zur Aussetzung der Pflicht zur Insolvenzanmeldung zur Verfügung.

Mit freundlichen Grüßen

Jochen Szech – Präsident

asr Allianz selbständiger Reiseunternehmen Bundesverband e.V.

Anke Budde – Geschäftsstellenleiterin

Arbeitsgemeinschaft Karibik e.V.

Oliver Schmitz – Vorstand

BundesForum Kinder- und Jugendreisen e.V.

Christian Günther – Geschäftsführer

Bundesverband der Campingwirtschaft in Deutschland e.V.

Sebastian Worel – Geschäftsführer

Bundesverband der Deutschen Incoming-Unternehmen e.V.

Christine Leonhard – Gesch.ftsführerin

Bundesverband Deutscher Omnibusunternehmer (bdo) e.V.

Carsten Herold – Vorstandsvorsitzender

Bundesverband führender Schulfahrtenveranstalter e.V.

Katja Rothmeier – Geschäftsführerin

Bundesverband Individual- und Erlebnispädagogik e.V.

Liliana Gatterer – Präsidentin

Bund der Selbständigen Deutschland e.V.

Volker Dankers – Vorstand

Deutscher Fachverband High School e. V.

Michelle Schwefel – Leiterin der Geschäftsstelle

Deutscher Ferienhausverband

Meik Haselbach – Vorsitzender

European Ropes Course Association (ERCA) e.V.

Julia Richter – Geschäftsführerin

Fachverband Deutscher Sprachschulen und Sprachreise-Veranstalter e.V.

Petra Thomas – Geschäftsführerin

Forum anders Reisen e.V.

Anne Heuer – Verbandsgeschäftsführerin

HSMA Deutschland e.V.

Sven Gollub – Vorsitzender

Landesverband für Kinder- und Jugendreisen Berlin Brandenburg e.V.

Holger Seidel – Vorstandsvorsitzender

Reisenetz e.V.

Ludwig Kohler – Präsident

RTGV Reiseleiter und Tourguide Verband e.V.

Gernod Loose – Vorstand

Verband der Russischen Tourismusindustrie in Deutschland e.V.

Michael Buller – Vorstand

Verband Internet Reisevertrieb e.V. (VIR)

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